Dorfgeschichten – Ein Leben auf dem Präsentierteller

25. Juni 2024 0 Von Roy

Ich bin in einem richtigen Dorf groß geworden und habe mich gefühlt wie auf dem Präsentierteller. Dieses Dorf wird auch immer meine Heimat bleiben aber ich muss ganz ehrlich sagen, dass ich froh bin dort nicht mehr zu leben. Ich habe aber natürlich auch viele schöne Momente erleben dürfen und eine schöne Dorfkindheit gehabt. Es gab immer Leute die auf dich aufgepasst haben und die Zeit, in der man rausgehen konnte bis es dunkel wurde, weil man sich im Dorf auskannte und man kaum Angst haben musste das was passiert, war eine gute Zeit.

Die Freunde wohnten nur ein paar Häuser weiter und man konnte immer mit jemanden was unternehmen. Ein Dorf ist wie eine kleine Welt. Jeder kennt jeden. Was ich an Dörfern so schön finde, wenn sie auch Natur gelegen sind und man sehr früh und sehr viel in der Natur sein kann.

Kommen wir nun zu den Nachteilen des Dorfes. Man weiß alles über dich, weil Ereignisse sich in einem Dorf ganz schnell verbreitem. Vielleicht nicht bei jeder Information oder jeder Veränderung in deinem Leben wirklich sinnvoll,ich glaube auch nicht, dass man das unbedingt möchte. Gerade, wenn es um intime oder auch um persönliche Veränderungen geht. Die Entwicklungszeit von Kindern und Jugendlichen ist so wichtig und sollte unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden dürfen und das ist leider auf dem Dorf nun mal nicht (immer) gegeben.

Für mich war das schlimmste dass jeder meine Geschichte kannte und ich hatte keinen Einfluss darauf. Ich konnte nicht entscheiden wer was von mir wissen durfte und wer nicht. Ich wollte nicht, dass alle wissen ob ich gerade verliebt bin, unglücklich bin oder mit wem ich mich treffe. Ich hatte einfach gar keine Privatsphäre. Und wenn deine Familie dann auch noch zerbricht (aus verschiedensten Gründen) geht das natürlich durchs das ganze Dorf und wird immer schön weiter verbreitet. Jeder dichtet dann auch noch irgendwas dazu , was ihm passt und daraus wird Entertainment für alle. Es interessiert auch niemanden wie es Dir dabei geh, weil es ja gerade Deine Familie ist, die so in den Vordergrund rückt. Es amüsieren sich einfach nur alle daran und machen sich lustig darüber, lästern und warten einfach darauf was als nächstes passiert. Als ich mich dann als schwul geoutet habe war im Dorf natürlich die Hölle los. Viele Menschen in dem Dorf waren glaube ich auch stark konservativ und es war ein absolutes No-Go. Ich war auch schon als Kind derjenige , der sich nie angepasst hat (nur um akzeptiert/geliebt) zu werden und immer sich selbst treu geblieben ist. Also auch schon vor meinem Outing war das Potenzial des Mobbingopfers sowieso schon da und mein Outing war, wie die Kirsche auf der Sahnetorte.

Ich wurde noch mehr ausgegrenzt,als vorher eigentlich auch schon. Eine Begrüßung gab es irgendwann nicht mehr und es wurde noch gelacht und gelästert, wenn ich irgendwo gewesen bin oder man hat mich einfach ignoriert. All das hat natürlich dazu geführt, dass ich angefangen habe mich immer mehr zurückzuziehen und irgendwann, wenn es nicht mehr nötig war gar nicht mehr nach draußen gegangen bin.

So schön ein Dorf auch sein kann und das Aufwachsen dort, gibt es aber natürlich auch Schattenseiten. Ich kam irgendwann an einem Punkt an dem ich Angst hatte und fast zugelassen hätte dass mein Selbstwertgefühl darunter gelitten hätte. Wenn Dir jeder den Du im Dorf triffst, sagt dass Du falsch bist oder Dich fertig macht weil Du schwul bist, macht das natürlich was mit Dir. Ich genieße das jetzt einfach viel mehr Privatsphäre zu haben und selbst entscheiden zu können welche Personen was über mich weiß und wer eben nicht. Auch wenn ich heute wieder in einem Dorf lebe ist es natürlich was ganz anderes, weil niemand aus meiner Vergangenheit dort lebt und meine Geschichte dort verbreiten könnte. Ich kann hier ganz klar selber entscheiden wer was über mich weiß und das beeinflusst natürlich auch das Bild was die Leute von mir haben.

Mich hat diese Erfahrung natürlich geprägt und macht auch was mit mir, weil ich ganz bewusst gelernt habe, was ich von mir Preis geben möchte und was nicht.